Wie kann man deeskalieren, wenn ein Konflikt sehr fortgeschritten ist? Wenn jede Seite ihr Vorgehen damit rechtfertigt, dass ansonsten die andere Seite gewinnt? Keiner zurückweichen will und nur den nächsten „Schlag“ vorbereitet? Wenn nur noch „Wie-Du-Mir-So-ich-dir-Denken“ vorherrscht und es keine Gesprächsbereitschaft mehr gibt? Wenn den Beteiligten fast schon egal ist, ob sie selbst mit untergehen, Hauptsache der andere wird gestoppt?
Aktuell erleben wir eine solche Situation leider auf der politischen Ebene im Ukraine–Konflikt, mit aller Zerstörung und Tragik, die mit solchen Entwicklungen immer verbunden ist.
Auch mich beschäftigt das sehr. Als Mediatorin kläre ich seit 20 Jahren Konflikte und glaube, fast hätte ich gesagt „immer noch“, an die Macht der Kommunikation. Es fällt mir nicht leicht, zu sehen, wie die kommunikativen Mittel zur Zeit fast am Ende zu sein scheinen, und ein Konflikt, wie so oft in der Menschheitsgeschichte, mit Krieg und Gewalt geführt wird.
Eines vorweg: Mir ist bewusst, dass politische Konflikte nicht ohne Weiteres mit sozialen Konflikten, wie wir sie aus unserem Alltagsleben kennen, zu vergleichen sind. Politische Konflikte sind sehr komplex und von vielen ökonomischen, geostrategischen und machtpolitischen Interessenslagen bestimmt. Dementsprechend bedürfen sie auch viel umfassenderer Perspektiven und Herangehensweisen.
Dennoch gibt es manche Parallelen. Eine davon ist die Art, wie sie eskalieren. Der Verlauf von Konflikten, ob zwischenmenschlich oder politisch, folgt einer immer gleichen Logik. Diese Logik hat der Konfliktforscher Prof. Dr. h.c. Friedrich Glasl in seinem bekannten Eskalationsstufenmodell eindrücklich beschrieben.
Video-Tipp Vortrag von Friedrich Glasl
Ich war daher kürzlich sehr froh, zu lesen, dass es genau von diesem Friedrich Glasl aktuell einen online Vortrag zum Thema „Konfliktdynamik und Friedenschancen in der Ukraine: Was können wir zur De–Eskalation und zum Frieden beitragen?“ geben sollte.
In diesem insgesamt sehr sehenswerten Vortrag, der inzwischen auch auf YouTube zu sehen ist, stellt Professor Glasl unter Anderem die GRIT-Methode vor, eine Methode der Verhandlungsführung, die bereits in früheren schwierigen politischen Auseinandersetzungen Erfolg hatte und zu einer Deeskalation beigetragen hatte.
Es lohnt sich sehr, sie zu kennen. Zum einen gibt sie Hoffnung, dass es selbst in der aktuellen zugespitzten Lage Möglichkeiten gibt, die Kombattanten wieder zu einer Verhandlungsposition zurückfinden zu lassen.
Zum anderen enthält sie wertvolle Anregungen für den Umgang mit eskalierten Konflikten im eigenen Leben und in der eigenen Welt.
Darum möchte ich Sie Ihnen nahebringen. Ich werde dafür zunächst die GRIT – Methode beschreiben. Dann zeige ich Ihnen, wie Sie die Schritte selbst im Umgang mit Konflikten in Ihrem eigenen Leben nutzen können.
Schauen wir also uns zunächst die GRIT–Methode an.
Deeskalieren: Die GRIT – Methode
Die GRIT-Methode (nach dem US-amerikanischen Psychologen Charles Osgood) ist ein Verfahren, um in erbitterten und aussichtslos erscheinenden Konflikten zu deeskalieren und eine Verhandlung vorzubereiten.
GRIT bedeutet „Graduate reduction of the intensity of tension“, also schrittweise Reduzierung der Intensität der Spannung. Im Prinzip geht es darum, dass eine Seite sich eine Serie wirklich wirksamer Abrüstungsangebote überlegt, diese ankündigt und die Gegenseite einlädt, ihrerseits etwas Ähnliches zu tun.
Dazu gehört es, sich nicht davon abbringen zu lassen, die geplante Aktion umzusetzen, auch wenn die Gegenseite unfreundlich oder gar nicht reagiert. Aggressive Reaktionen der Gegenseite werden nicht mit mehr Sanktionsdrohungen, sondern eindeutigen, veröffentlichten und umgrenzten Handlungen beantwortet.
Man enthält sich jeglicher eigener Aggression und bleibt dabei, die angekündigte Maßnahme umzusetzen. Im Anschluss wird eine zweite Aktion angekündigt und umgesetzt und dann gegebenenfalls eine dritte.
Ziel ist es, durch kleine Schritte gegenseitiges Vertrauen darin herzustellen, dass die eigenen Handlungen von der Gegenseite nicht falsch gedeutet werden, wie es in der Negativspirale von Eskalationen unweigerlich passiert.
Deeskalationserfolg 1986
Dieses Konzept wurde bereits 1986 vom damaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, angewandt. Konkret waren es 1986 zwei Maßnahmen, die er damals einleitete: Unter Beobachtung des Europarates wurden nukleare Sprengköpfe und Trägerraketen unschädlich gemacht. 48 Stunden nach Ankündigung und Einladung der dritten Maßnahme gab es eine Vereinbarung für ein Face-to-face Treffen zwischen Reagan und Gorbatschow in Reykjavik. Dort wurde dann tatsächlich der Durchbruch in den Genfer Abrüstungsverhandlungen erreicht.
Deeskalieren: Was die GRIT-Methode so besonders macht
Die GRIT-Methode geht eigentlich gegen unsere spontanen Reflexe im Konflikt:
- Im Konflikt erwarten wir den ersten Schritt und eine Vorleistung von der anderen Seite.
- Wir glauben, es würde als Schwäche erscheinen, und dem anderen einen Machtvorsprung geben, wenn wir den ersten Schritt tun.
- ERST sollen unsere Bedingungen und Forderungen erfüllt werden, bevor wir bereit sind, unsererseits etwas zu tun.
- Misstrauisch und sehr empfindlich reagieren wir auf jede Art von Unfreundlichkeit und sehen darin eine Bestätigung für die Bedrohlichkeit des Gegenübers. Was dann wiederum unsere Verteidigungsmaßnahmen oder Angriffsstrategien erhöht.
- Da in der Regel beide Seiten so denken, führt das immer weiter in die Eskalationsspirale hinein.
Um die GRIT-Methode anzuwenden, müssen wir also in gewisser Weise über unseren eigenen Schatten springen und unsere Verteidigungs- und Angriffsreflexe im Zaum halten. Dafür brauchen wir ein klares Friedensziel vor Augen.
Zusätzlich müssen wir es schaffen, nicht nur ein Angebot, sondern mehrere Angebote in Folge zu überlegen. Es müssen Angebote sein, die von der Gegenseite auch als solche wahrgenommen werden können. Und wir müssen unbedingt dabei bleiben sie umzusetzen. Das ist nicht einfach, aber sehr wirkungsvoll, selbst in aussichtslos erscheinenden Situationen, wie es das Beispiel aus der Geschichte zeigt.
Deeskalieren: Im Kleinen wie im Großen
Neben den großen Konfliktlagen ist es wichtig, auf Konflikt und Frieden im eigenen Leben zu schauen. Denn: Für den Frieden auf die Straße zu gehen oder zu meditieren ist eine sehr gute Sache. Aber es reicht nicht.
Was ich meine, zeigt dieses Beispiel:
„Jemand sollte doch dem Putin mal eine Atombombe auf den Kopf werfen ….“
Solche Vorschläge habe ich tatsächlich in den letzten Wochen in verschiedenen Variationen von sehr friedensbewegten Menschen gehört. Nur haben sie offensichtlich nicht bedacht, dass sie mit einem solchen Gedanken nicht bei Frieden, sondern bei Stufe 9 des Eskalations-stufenmodels angelangt sind: gemeinsam in den Abgrund.
Klar, solche Aussagen sind nicht „ernst“ gemeint. Menschen sagen das, um ihren Worten und Wünschen Stärke und Nachdruck zu verleihen, als Gegenmittel für die Bedrohung, Angst, Ohnmacht und Ratlosigkeit, die sie empfinden. Solche Aussagen zeigen aber auch, wie sehr sie innerlich eskaliert und aufgerüstet sind.
Schwierige Gefühle loswerden zu wollen und Beruhigung zu suchen, ist ein menschlicher Reflex. Es ist aber auch ein menschlicher Reflex, sofort nach Schuldigen zu suchen. Wir glauben, wenn wir diesen ausmachen können, und dieser entfernt würde, wäre die Welt wieder in Ordnung. Wir glauben, berechtigt zu sein, diese Gefühle zu haben, weil ja der andere der Böse ist.
Tatsächlich ist alles etwas komplizierter. Nicht nur in der Politik.
Es ist grundsätzlich nichts falsch daran, dass diese Gefühle aufkommen. Es sind instinktive Reaktionen auf eine bedrohliche Situation. Sie sind Teil unserer menschlichen Natur und schützen unsere Existenz. Was wir aber in der Hand haben, ist zu wählen, wie wir mit ihnen umgehen wollen. Das Instrument dafür ist unser Verstand und die Fähigkeit, uns unsere Gefühle bewusst zu machen und zu reflektieren.
Deeskalieren beginnt im eigenen Inneren
In diesem Sinn sollten wir uns für solche Gedanken nicht verurteilen. Ihre Funktion ist eine Entlastung von Stressgefühlen.
Aber wir sollten nicht in ihnen hängen bleiben. Letztlich beginnen Eskalationen in unserem Leben immer auch im eigenen Inneren, und unterliegen damit auch unserer Kontrolle.
Ein chinesisches Sprichwort sagt:
Achte auf Deine Gefühle, denn sie werden zu Gedanken.
Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden zu Worten.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden zu Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten,
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.
Wenn wir nicht achtsam sind, verfestigen sich unsere (legitimen) Gefühle und Gedanken und erschaffen schließlich genau das, was wir unbedingt vermeiden wollen. Und das ist im Konfliktfall Verletzung und Zerstörung, meist für beide Seiten.
Konflikte beheben wir, indem wir uns als Erstes um die Bedingungen im eigenen Inneren kümmern. Dazu gehört es zu, sich genau so zu verhalten, dass Frieden mit anderen Menschen möglich wird, ohne auf eigenen Rechte und Bedürfnisse zu verzichten.
Deeskalieren im eigenen Leben mit GRIT
Konflikte in Beziehungen sind normal. Verschiedene Standpunkte, ein paar Emotionen, ein hitziger Dialog – immer und jederzeit kann es an irgendeinem Punkt passieren, dass man sich aufschaukelt, alte Geschichten hochkocht und gemeinsam in negative Abwärtsspiralen driftet.
Wir erinnern uns: GRIT bedeutet schrittweise und wechselseitige Initiativen zur Reduktion von Spannungen. Das klingt simpel, verlangt aber durchaus ein bisschen Mut und manchmal auch persönliche Größe. Denn wir müssen aufgeben, unseren Ego-Bedürfnissen und inneren Kampf- und Verteidigungsreflexen zu folgen. Wir müssen fortfahren Entgegenkommen zu signalisieren, auch wenn der andere nicht sofort folgt.
Die GRIT-Schritte in persönlichen Beziehungen:
- Machen Sie sich klar, worum es Ihnen geht: Eine Beziehung in Frieden, eine einvernehmliche Zusammenarbeit etc.
- Geben Sie bewusst ihre Abwehrhaltung (kämpfen–wollen, gewinnen–wollen, sich schützen müssen) auf.
- Geben Sie Ihrem Partner zu verstehen, dass Sie die Spannung reduzieren möchten und schenken Sie ihm die Anerkennung, die er braucht (= klares Signal in Richtung Eskalation).
- Lassen Sie erste kleine persönliche Gesten von sich selbst ausgehen. Das kann ein Lächeln, eine kleine Berührung oder auch eine direkte Entschuldigung sein. Achten Sie aber darauf, dass Sie sich dabei nicht schwächen. Und dass sie nicht des Guten zu viel tun, denn jetzt ist Ihr Partner dran, darauf zu reagieren.
- Warten Sie auf kleine Versöhnungsgesten von Seiten ihres (Konflikt-) Partners.
- Wenn Sie merken, dass Ihr Partner positiv reagiert, erwidern Sie wiederum positiv. Das dreht die Konfliktspirale zurück.
- Sollte Ihr Partner nicht darauf reagieren, bleiben Sie entschieden und abgegrenzt in Ihrer Position, zeigen Sie gleichzeitig weiter versöhnliche Gesten
Sobald es Ihnen gelungen ist, die Spirale zu unterbrechen und in einen positiven Kreislauf zu kommen, starten Sie mit vertrauensbildenden Maßnahmen wie zum Beispiel die Erinnerung an gemeinsame Werte oder Aktivitäten.
Und was ist mit den strittigen Themen?
Richtig. Mit den GRIT-Schritten lösen Sie nicht unbedingt sofort alle Konfliktthemen. Die kommen dran, wenn die Beteiligten wieder raus aus der Konfliktspirale sind. Die GRIT-Schritte sind vor allem dafür da, eine verhärtete und verstrickte Situation aufzulösen und erst einmal wieder eine Gesprächsbasis zu schaffen.
Fazit
Was den aktuellen Ukraine–Konflikt betrifft, ist sehr zu hoffen, dass viele Verhandlungsexperten hinter den Kulissen damit beschäftigt sind, Kontakt und Kommunikation herzustellen. Das ist aus meiner Sicht unabdingbar, um akzeptable Lösungen zu finden. Natürlich werden wir aus guten Gründen nicht viel davon erfahren.
So wichtig es ist, Krieg und Gewalt im Außen zu verurteilen, so wichtig finde ich es aber auch, sich immer wieder zu fragen, wie es eigentlich um den Frieden im eigenen Herzen steht. Und wie es gelingt, auch unter schwierigen Bedingungen, Ruhe zu bewahren und Frieden nach Außen zu tragen. Neben vielem anderen kann das etwas sein, das wir in diesen Zeiten weiterentwickeln können.
Herzlichst
Gibt es in Ihrem Leben im Moment Konfliktthemen, die Sie sehr beschäftigen? Sie haben schon viel probiert, aber die Situation ist kompliziert?
Sie würden gerne einen neutralen Außenblick bekommen und einige Fragen klären, ohne gleich einen ganzen Coachingprozess zu beginnen?
Dann ist vielleicht mein EXPERTEN-CHECK genau das richtige für Sie. Schauen Sie gerne einmal rein.
Ich bin Mediatorin, zertifizierte Klärungshelferin und Supervisorin und helfe Ihnen gerne bei der Konfliktlösung.
Weiterlesen
- https://kerstin-pletzer.de/konfliktgespraech_fuehren/
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Bildnachweis
Titelbild: group diplomacy @ light source • depositphotos.com
Eskalation und Deeskalation: persönliches Material
Wie bringen wir mehr Menschen dazu Frieden in sich zu finden?
Nur wer selbst frieden hat kann Frieden geben!
Eine sehr wichtige Frage, lieber Martin Fischer!
Aufklärung und Bewusstseinsbildung sind gute Ansatzpunkte. Letztlich braucht es bei jedem aber auch eine innere Entscheidung dafür. Innerer Frieden hat viel damit zu tun, zu lernen unter Stress und wenn die Dinge nicht so gut laufen, im inneren Gleichgewicht zu bleiben. Und das bedeutet, einen Umgang mit seinen inneren Emotionen, Gedanken und Stressreaktionen zu finden. Sonst bleiben wir in unseren Reflexen hängen: Wollen, Vergleichen, Bewerten und Bekämpfen.
Vielen Dank für den anregenden Gedanken!
Kerstin Pletzer
Verantwortliche Menschen bemühen sich Konflikte zu lösen.
Streitende fühlen sich zumeist auf der richtigen Seite, bleiben aber, selbst wenn sie es womöglich zuvor einmal waren, nicht lange unschuldig und gerecht.
Wer einen Krieg führt verliert seine Unschuld also sehr schnell.
Daraus folgt: Streit gehört schnell geschlichtet – das gilt auch für jeden Krieg.
Wir stochern die Konfliktpartner bei Ehescheidungen nicht dazu an, ihren Konflikt eskalieren zu lassen – davon hat niemand etwas, weder sie selbst, noch ihre Kinder.
Wie viel mehr gilt diese einfache Erkenntnis für jede Mobbing-Situation und für jeden Krieg.
Wer kriegerische Auseinandersetzungen beobachtet und noch bei klarem Verstand ist,
wird deeskalierend tätig und nicht noch zusätzliches Benzin ins Feuer gießen.
Die Anzahl der Toten, die Eskalation der Brutalität, die schwerwiegenden Folgen für Mensch und für ihre Umwelt zeigen immer, wohin uns die Befeuerung destruktiver Prozesse führen.
Das kann ich nur bestätigen, lieber Gerd Fierus.
Vielen Dank für den Kommentar!