Du wurdest betrogen. Vielleicht in deiner Beziehung. Vielleicht von jemandem, dem du wirklich vertraut hast. Vielleicht ist es noch ganz frisch oder schon eine Weile her, aber der Schmerz ist geblieben. Und vielleicht fragst du dich gerade, ob du je wieder klar denken kannst. Ob diese Gefühle, die dich überrollen, irgendwann nachlassen. Oder ob du für immer in diesem inneren Chaos festhängst.
Ein Vertrauensbruch reißt etwas ein. Nicht nur zwischen dir und dem anderen – sondern mitten durch dein Innerstes. Und was dann kommt, ist oft überwältigend: Wut, Scham, Kränkung, Verzweiflung. Das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Und die Angst, nie wieder ganz zu werden.
Wenn du dich in dieser Phase wiederfindest – in dieser zweiten Phase, nach dem Schock, in der alles zu viel ist und nichts Halt gibt – dann ist dieser Artikel für dich.
Ich möchte dir zeigen, was in dir passiert. Warum es so weh tut. Warum Gefühle wie Wut oder Misstrauen manchmal stärker sind als du selbst – und warum das kein Zeichen von Schwäche ist. Ich möchte dir verständlich machen, wie eng diese Reaktionen mit deinem Selbstwert, deinem Vertrauen in dich selbst und vielleicht sogar mit alten, unbewussten Verletzungen zusammenhängen.
Und ich möchte dir einen Weg zeigen: wie du heilsam mit dieser Wucht umgehen kannst. Nicht, um sie zu verdrängen. Sondern um durch sie hindurch wieder bei dir anzukommen. Weil Vertrauen nicht beim anderen beginnt. Sondern bei dir.
1. Wenn Gefühle dich überrollen
Es gibt Momente, da scheint nichts mehr zu helfen. Kein Gedanke, kein Gespräch, kein guter Rat. Alles in dir ist wie wund. Vielleicht weinst du, obwohl du gar nicht willst. Vielleicht möchtest du schreien, obwohl du keinen Laut herausbekommst. Oder du fühlst dich wie taub, und das macht dir am meisten Angst.
Wenn du betrogen wurdest, trifft dich das dort, wo du am verletzlichsten bist: in deinem Vertrauen, in deinem Gefühl von Sicherheit, in dem Bild, das du von dir selbst und von der Beziehung hattest. Und genau deshalb geraten so viele Gefühle durcheinander.
Wut, Kränkung, Scham, Angst, Trauer, Kontrollbedürfnis – sie kommen oft gleichzeitig, in Wellen, in Schüben, in Rückfällen. Und manchmal reicht ein einziger Moment, ein Geruch, ein Geräusch, ein Bild und alles ist wieder da, ungebremst und ungefiltert.
Diese Phase fühlt sich für viele wie ein emotionaler Ausnahmezustand an. Und sie ist es auch. Du bist nicht schwach, weil du nicht funktionierst. Du bist nicht instabil, weil du weinst, schreist, dich vergräbst, zweifelst, sondern einfach ein Mensch, der etwas verloren hat, das ihm wichtig war: sicheren Boden unter den Füßen.
Viele in dieser Phase glauben, dass es so bleibt. Dass diese Intensität nie aufhört. Aber das stimmt nicht. Gefühle bleiben nicht, wie sie sind. Sie verändern sich, wenn du sie nicht festhältst. Wenn du ihnen Raum gibst, ohne dich in ihnen zu verlieren.
2. Warum es so weh tut
Der Moment, in dem dir klar wird: Du wurdest betrogen. Und plötzlich reißt es dich weg. Tiefer, als du es erwartet hättest.
Das liegt nicht nur an dem, was geschehen ist. Es liegt auch an dem, was es in dir berührt.
Der Psychiater Samuel Widmer hat ein Modell entwickelt, das erklärt, warum manche Erfahrungen so tief gehen: das sogenannte Kern-Schalen-Modell. Es beschreibt, wie sich unsere Persönlichkeit im Laufe des Lebens aufbaut – und wie wir lernen, uns zu schützen.
Das Kern-Schalen-Modell
Tief in uns drin ist unser Wesenskern. Mit ihm kommen wir auf die Welt. Ein innerer Ort von Lebendigkeit, Vertrauen, Lebensfreude.
Dieser Kern ist dein Ursprungs-Zustand. Das, was du warst, bevor du lernen musstest, vorsichtig zu sein.
Darum herum lagern sich im Laufe unseres Lebens Schalen oder auch Schichten, die unsere Persönlichkeit formen.
Die erste: Schmerz, Ohnmacht, Verzweiflung, Weh-Gefühle.
Dann eine zweite: Schutzgefühle: Aggression, Wut, Trotz.
Und schließlich außen: unsere Anpassung, unsere Strategien und Rollen. Das, womit wir funktionieren, verleugnen und nicht fühlen.

Ein Vertrauensbruch durchstößt all diese Schichten. Er trifft nicht nur dein Denken. Er trifft deinen Schutz, deinen alten Schmerz und deine tiefste Verletzlichkeit.
Deshalb fühlt es sich so an, als würde etwas in dir einstürzen. Nicht nur das Vertrauen in den anderen, sondern auch dein Vertrauen in dich selbst. Deine Selbstverständlichkeit. Dein Selbstwert.
Vielleicht hast du dich stark gefühlt, und plötzlich zweifelst du an allem. Vielleicht wusstest du, wer du bist, und jetzt erkennst du dich kaum wieder.
All das ist kein Zeichen dafür, dass mit dir etwas nicht stimmt. Es ist ein Zeichen dafür, dass etwas sehr Kostbares in dir berührt wurde. Und dass du, vielleicht zum ersten Mal, Zugang bekommst zu einem inneren Ort, den du lange nicht betreten hast, und den du lange vermeiden wolltest, den Bereich existenzieller Weh-Gefühle (Samuel Widmer).
Du musst wissen: Unter diesem Schmerz, hinter diesen Weh–Gefühlen ist nicht Nichts. Denn dort liegt unser lebendiger unzerstörbarer Kern, unsere Liebe, unsere Lebensfreude und unsere Lebenskraft. Und manchmal entdecken wir diesen Kern genau durch solche Geschehnisse wieder.
So beginnt Heilung oft: nicht mit einem guten Gefühl, sondern mit einem echten. Und der Möglichkeit, zu spüren, was da wirklich in dir lebt – unter der Wut, unter dem Schmerz, unter dem, was dich gerade überrollt.
Emotionen
Was alles an Emotionen aufgemischt ist, lässt sich oft schwer benennen, weil alles gleichzeitig da ist und sich zum Teil auch überlagert: Wut, Kränkung, Trauer, Angst, Scham, Eifersucht, Nicht-Fassen-Können. Schauen wir dennoch die Emotionen noch einmal einzeln an.
Kränkung
Kränkung ist leise, kriecht unter die Haut. Sie trifft dich dort, wo du dich sicher geglaubt hast. Du hattest Erwartungen, Hoffnungen, vielleicht auch ein Idealbild von der Beziehung – und plötzlich zerbricht dieses Bild. Kränkung geht an deine Würde, greift dein Selbstbild an. Sie stellt infrage, ob du genügst. Ob du wichtig warst. Ob du je gesehen wurdest.
Wut
Wut ist laut, direkt, explosiv. Sie schützt. Sie will aufstehen, sich wehren, klarstellen, dass das so nicht geht. Sie gibt dir kurzfristig das Gefühl, handlungsfähig zu sein – gerade dann, wenn du dich innerlich ohnmächtig fühlst. Wut ist oft die erste Emotion, die sichtbar wird. Wut ist pure Energie und schützt dich vor Schmerz, Angst, Enttäuschung.
Scham
Scham ist das Gefühl, dich selbst nicht mehr anschauen zu können. Sie macht klein, zieht dich zurück, lässt dich verstummen. Nach einem Betrug kann sich Scham zeigen in Gedanken wie: „Wie konnte ich das nicht merken?“ oder „Warum habe ich mich so verletzlich gemacht?“ Scham lässt dich an dir zweifeln – als wärst du mitverantwortlich für das, was dir passiert ist.
Verzweiflung
Verzweiflung kommt oft dann, wenn keines dieser Gefühle mehr Halt gibt. Wenn du nicht mehr weißt, wie es weitergehen soll. Wenn alles in dir sich eng und leer zugleich anfühlt. Wenn du keinen Weg siehst, weder zurück, noch nach vorn.
Trauer und Verlustangst
Auch wenn niemand gestorben ist, ein Vertrauensbruch fühlt sich oft wie ein Abschied an. Auch wenn man es zunächst weiter miteinander versucht. Dennoch ist es ein Abschied: Von dem, was war. Von dem, was hätte sein können. Und vielleicht auch von einem Teil von dir selbst.
Diese Gefühle können auch körperlich spürbar sein als Kloß im Hals, Druck auf der Brust, Zittern, Herzrasen, Atemnot.
Sie sind nicht falsch. Sie sind eine Antwort auf etwas, das tief erschüttert wurde. Und sie sind oft widersprüchlich – Wut und Sehnsucht, Stolz und Bedürftigkeit, Hoffnung und Abwehr.
Das Schwierige ist: Viele dieser Gefühle greifen nicht nur in die aktuelle Situation hinein. Sie können auch frühere Erfahrungen oder Verletzungen triggern. Und manchmal reagieren wir aus diesem Grund noch stärker, als der Anlass vermuten lässt – weil da etwas in uns berührt wurde, das viel älter ist als der Moment.
Heilsam ist nicht, diese Gefühle „wegzubekommen“. Heilsam ist es, sie wahrzunehmen, zu verstehen, wofür sie stehen und ihnen Raum zu geben, ohne dich in ihnen zu verlieren.
3. Wenn Schutz zur Falle wird
Nach einem Vertrauensbruch ist es nur allzu verständlich, dass du nach Halt suchst. Nach etwas, das dir Kontrolle zurückgibt. Oder wenigstens Orientierung. Aber nicht jeder Umgang mit starken Gefühlen hilft dir wirklich. Manche Strategien geben dir kurzfristig das Gefühl von Sicherheit und ziehen dich dabei immer tiefer in eine innere Unfreiheit.
Kontrollsucht
Vielleicht merkst du, wie dein Blick argwöhnischer wird. Wie du beginnst, das Handy des anderen zu checken, Nachrichten zu durchforsten, Hinweise zu deuten. Du willst Gewissheit und findest doch keine Ruhe. Denn Vertrauen lässt sich nicht erzwingen. Kontrolle lindert die Angst für einen Moment und sie nährt sie zugleich. Und sie engt ein. Dich und den anderen.
Die Opferrolle als Schutz
Wenn dir Unrecht geschehen ist, hast du jedes Recht auf Schmerz, auf Wut, auf Rückzug. Doch wenn du beginnst, dich dauerhaft als Opfer zu sehen, gibst du dir selbst keine Chance mehr. Du wirst reaktiv, misstrauisch und starr. Und irgendwann verlierst du den Kontakt zu dem Teil in dir, der gestalten könnte, der heilen möchte. Und der wählen kann, wie es weitergeht.
Argwohn als Dauerzustand
Manche Menschen bleiben in einer Art innerem Alarmzustand. Sie erwarten jederzeit einen neuen Schlag. Eine neue Lüge. Einen neuen Beweis dafür, dass niemand wirklich ehrlich ist. Diese Haltung schützt vor Enttäuschung, aber sie verhindert auch Nähe. Wenn du in ständiger Alarmbereitschaft lebst, hat keine Beziehung genug Raum, um sich neu zu entwickeln. Auch nicht die zu dir selbst. In der Unsicherheit bleibt dir nur noch mehr Kontrolle, ein perfekter Teufelskreis.
Wut festhalten
Wut kann klärend sein. Kraftvoll. Eine Stimme, die sagt: „So nicht mehr.“ Aber wenn sie sich festsetzt, wenn du sie nicht irgendwann loslässt, sondern immer wieder neu nährst, durch Angstgedanken, Misstrauen, alte Geschichten, dann wird sie zu einem geschlossenen System. Sie verbraucht dich. Und sie lässt keine Luft mehr für etwas anderes: für Annäherung, für Vertrauen, für Versöhnung.
Diese Muster sind nicht falsch. Sie sind Versuche, dich zu schützen. Aber sie führen oft weiter weg von dem, was du eigentlich suchst: inneren Halt, Ruhe, Klarheit. Heilsam wird es dort, wo du beginnst, dich selbst zu stärken – nicht gegen den anderen, sondern für dich. Wo du erkennst, dass deine Sicherheit nicht von Kontrolle kommt, sondern von deiner Fähigkeit, mit dem Ungewissen zu leben, ohne dich selbst zu verlieren.
5. Selbstwertprobleme
Ein Vertrauensbruch trifft nicht nur dein Gefühl zum anderen. Er trifft auch dein Gefühl zu dir selbst. Und oft geschieht das insgeheim und leise. Nicht gleich in den ersten Tagen. Sondern später, wenn der erste Schock nachlässt – und die Fragen bleiben.
Warum habe ich das nicht gesehen?
War ich zu naiv?
Bin ich nicht gut genug?
Plötzlich ist da nicht nur Wut auf den anderen – sondern auch Zweifel an dir selbst. An deinem Urteilsvermögen, an deinem Wert, an deiner Wahrnehmung.
Das hat nichts mit Schwäche zu tun. Es hat damit zu tun, dass unser Selbstwert in Beziehungen lebt. Wir spiegeln uns im anderen. Erkennen uns in seinem Blick. Und wenn dieser Spiegel zerbricht, verlieren wir manchmal auch das Bild, das wir von uns selbst hatten.
Viele Menschen sagen in dieser Phase: Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Oder: Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin.Das klingt dramatisch – aber es ist oft sehr wahr. Weil der innere Halt erschüttert wurde. Weil das, worauf du dich verlassen hast, plötzlich nicht mehr trägt.
Was dann hilft, ist nicht ein neues Liebesbekenntnis. Auch kein neues Selbstoptimierungsprogramm. Sondern etwas anderes:
Wieder in Kontakt zu kommen mit dir selbst.
Nicht dem Bild, das du von dir hattest. Sondern dem Teil in dir, der bleibt – auch wenn du verletzt wirst.
Selbstwert ist kein Zustand. Er wächst. In Momenten, in denen du dich spürst. In Entscheidungen, die du für dich triffst – nicht gegen jemanden, in kleinen Handlungen und durch positive Erfahrungen, die dir zeigen: Ich bin noch da. Ich kann etwas tun. Ich schaffe es.
Vielleicht fühlst du das noch nicht. Vielleicht ist da gerade nur Leere oder Scham oder Anklage. Aber irgendwo darunter bist du noch. Und je öfter du dir selbst begegnest – mit Mitgefühl, mit Klarheit, mit Geduld – desto mehr wirst du spüren:
Ich bin mehr als das, was mir passiert ist.
4. Verarbeitung
Nach einem Vertrauensbruch verläuft nichts gradlinig. Kein Gefühl folgt dem anderen in sauberer Reihenfolge. Und doch gibt es innere Bewegungen, die viele Menschen durchlaufen – oft ohne es zu wissen.
Diese Phasen lassen sich nicht festlegen wie auf einem Zeitstrahl. Aber sie können Orientierung geben. Und das Gefühl: Ich bin nicht falsch. Ich bin mittendrin.
Phase 1: Der Schock
Am Anfang steht oft das Nicht-glauben-Können. Der Moment, in dem du realisierst: Es ist passiert. Du wurdest betrogen. Diese Phase ist geprägt von Erstarrung, Erregung und innerer Leere. Du möchtest aus dem Albtraum erwachen, aber er ist Realität. Du funktionierst, aber du bist nicht wirklich da. Es kann sein, dass du versuchst, das Geschehene zu relativieren, kleinzureden oder zu ignorieren. Das ist ein Schutzmechanismus. Dein System versucht, sich zu stabilisieren.
Phase 2: Emotionale Überwältigung
Dann kommt der Moment, in dem die Realität einsickert. Und mit ihr die Emotionen: Wut. Tränen. Schlaflosigkeit. Kreisende Gedanken. Scham. Angst. Ohnmacht. In dieser Phase hast du vielleicht das Gefühl, dass es nie wieder besser wird. Dass dich diese Gefühle auffressen. Genau hier sind viele Leserinnen und Leser dieses Artikels. Und genau hier braucht es Orientierung. Nicht im Sinne von „so kommst du da raus“. Sondern: „So gehst du da durch.“
Phase 3: Verstehen
Irgendwann wird es ruhiger. Nicht friedlich, aber sortierter. Du beginnst zu begreifen, was passiert ist. Du erkennst, was der Vertrauensbruch mit dir gemacht hat – und vielleicht auch, warum er dich so tief trifft. Es ist die Phase des inneren Aufräumens. Des Fragens. Des Reflektierens. Und manchmal auch der ersten zarten Erkenntnisse: Wer du bist. Was dir wichtig ist. Was du brauchst.
Phase 4: Neuorientierung
Diese Phase lässt sich nicht herbeiführen. Sie erwächst aus den anderen. Und sie kommt unmerklich und fast unter der Hand. Du wachst eines Tages auf und spürst: Heute tut es ein bisschen weniger weh. Du gehst spazieren und merkst: Du kannst wieder atmen. Du triffst Entscheidungen nicht aus Trotz, nicht aus Angst, sondern aus Klarheit.
Neuorientierung bedeutet nicht, dass alles wieder gut ist. Sondern, dass du beginnst, deinen eigenen Boden wieder zu spüren. Nicht, weil alles geklärt ist. Sondern, weil du dir selbst wieder näher bist.
Die Phasen können sich wiederholen. Du denkst, du bist schon „weiter“ und plötzlich holt dich eine alte Welle ein. Auch das ist normal. Heilung ist nicht linear. Aber sie geschieht. In Wellen, in Spiralen, in Rückschritten, in kleinen Fortschritten. Und immer in deinem Tempo.
Es ist besser, gelegentlich betrogen zu werden,
– Astrid Lindgren (1907 – 2002)
als niemandem mehr zu vertrauen.
5. Der Weg geht hindurch – nicht drumherum
Starke Gefühle machen oft mehr Angst als das Geschehene selbst. Weil sie so unberechenbar sind. So laut. So widersprüchlich. Und weil sie dich aus der Spur werfen – aus deiner Rolle, deiner Fassung, deinem Alltag.
Aber Gefühle sind nicht das Problem. Das Problem ist, wie sehr sie dich manchmal überrollen. Oder wie sehr du gelernt hast, sie wegzudrücken, wenn sie dich zu sehr erschrecken.
Ein heilsamer Umgang mit Gefühlen heißt nicht, sie zu kontrollieren. Sondern ihnen Raum zu geben – ohne dich in ihnen zu verlieren. Sie zu fühlen – ohne dich von ihnen bestimmen zu lassen. Und das geht. Nicht immer sofort. Nicht ohne Rückschläge. Aber es geht.
Was du tun kannst – ganz konkret:
1. Erkenne an, was da ist.
Sag innerlich nicht „Ich darf nicht so wütend sein“ oder „Ich sollte jetzt stark sein“. Sag: „Ich bin gerade wütend.“ „Ich bin verletzt.“ „Ich habe Angst.“ Das klingt einfach – aber es ist der erste Schritt, dich selbst wieder zu spüren, ohne dich zu verurteilen.
2. Halte inne, bevor du handelst.
Wut und Schmerz treiben oft zu impulsivem Verhalten: Nachrichten schreiben, nachbohren, kontrollieren. Versuch, einen Moment dazwischenzuschieben – zwischen Gefühl und Reaktion. Atme. Geh raus. Schreib dir alles von der Seele, ohne es gleich abzuschicken. Hier findest du eine Anleitung zum expressiven Schreiben.
3. Finde deinen Ausdruck.
Was du nicht aussprichst, bleibt in dir stecken. Und irgendwann zeigt es sich auf andere Weise – in Rückzug, Gereiztheit, innerer Taubheit. Du musst nicht alles sofort verstehen. Aber du darfst reden. Schreiben. Weinen. Tanzen. Gehen. Alles, was Bewegung bringt – innen oder außen – hilft, dass sich etwas löst.
4. Erlaube dir Rückschritte.
Der Prozess verläuft nicht in klaren Schritten. Manchmal denkst du, es ist überstanden – und plötzlich ist es wieder da. Die Scham. Der Schmerz. Die Wut. Das ist kein Rückfall. Das ist Teil der Heilung. Alte Wunden brauchen Wiederholung, um sich wirklich zu schließen.
5. Bleib im Kontakt mit dir.
Frag dich immer wieder: Was brauche ich gerade? Was würde mir gut tun? Nicht als Flucht. Sondern als Zuwendung. Vielleicht brauchst du Ruhe. Vielleicht ein Gespräch. Oder einfach jemanden, der da ist, ohne zu erklären.
6. Verabschiede dich von der Opferrolle
Ja, dir ist etwas geschehen. Und ja, das war nicht fair. Aber du bist mehr als diese Geschichte. Wenn du dich nur als Opfer siehst, gibst du deine Handlungsfähigkeit ab. Dann wirst du zur Reaktion – nicht zur Gestalterin. Heilsam ist es, den Schmerz zu würdigen. Und gleichzeitig Schritt für Schritt die Verantwortung für dich selbst zurückzuholen.
7. Vertraue auf das, was heilt – auch wenn du es noch nicht spürst
Eine seelische Wunde heilt wie eine körperliche: von innen. Nicht, indem du an ihr reißt, sondern indem du ihr Zeit gibst. Ruhe. Geduld. Und das Vertrauen: Es wird gehen. Nicht zurück zu vorher – aber weiter zu dir. In ein Leben, das nicht unversehrt ist, aber echt. Und deins.
Fazit: Vertrauen beginnt bei dir
Vielleicht wartest du noch. Auf eine Erklärung, auf Reue, auf eine Geste, die dir zeigt: Es tut ihm oder ihr Leid. Oder: Es war ein Fehler. Und vielleicht ist dieser Moment noch nicht gekommen. Oder er reicht nicht. Vielleicht kommt er auch und du spürst trotzdem keinen Frieden.
Dann ist es vielleicht Zeit, die Richtung zu wechseln. Nicht weg vom anderen, sondern hin zu dir.
Denn Vertrauen heilt nicht dort, wo es gebrochen wurde. Es heilt dort, wo du beginnst, dich selbst wieder zu halten. Wo du wieder spürst: Ich bin da. Auch jetzt. Auch so.
Vertrauen ist kein Gefühl, das jemand dir gibt. Es ist eine Entscheidung, die du triffst. Für dich. Gegen die Angst, alles kontrollieren zu müssen. Gegen die Versuchung, dich nur noch zu schützen. Und für den Mut, dich wieder berührbar zu machen, nicht blind, aber offen.
Es geht nicht darum, alles zu verzeihen. Auch nicht darum, zurückzukehren zu dem, was war. Es geht darum, dich wieder in Beziehung zu bringen mit dir selbst. Mit deinem inneren Maß, deiner Wahrheit und deiner Würde.
Und vielleicht ist das der leise Anfang:
Nicht mehr zu fragen, ob du wieder vertrauen kannst.
Sondern zu spüren, dass du es bist, die sich selbst wieder trauen darf.
Herzlichst

P.S.: Wenn du gerade mitten in all dem steckst – nimm dir jetzt einen Moment nur für dich.
Schließ die Augen. Spür in dich hinein. Atme. Schreib einen Gedanken auf. Geh ein paar Schritte. Ruf jemanden an. Tu etwas Kleines, Echtes, Freundliches – für dich.
Nicht morgen. Jetzt.
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Bildnachweis:
Titel: KATRIN BOLOVTSOVA from Pexels @canva