Kennst du das Defokussieren oder den „peripheren Blick“? Es ist eine sehr interessante Wahrnehmungseinstellung, die hilft, neue Erkenntnisse und Ideen zu gewinnen und Resilienz aufzubauen.

Im letzten Supervisionsimpuls zum Thema „Stressbewältigung“ ging es um seinen Gegenpol: um die hohe menschliche Kompetenz des Fokussierens, die es ermöglicht, in Stress- und Krisensituationen sehr stringent, zielgerichtet und effizient Probleme zu bewältigen.

Wir zeigten auch, dass dauerhaftes Fokussieren eine Kehrseite hat, eng und unflexibel machen und dazu führen kann, dass wichtige Informationen ausgeblendet werden. Sogar gesundheitliche Probleme können folgen.

In diesem SupervisionsImpuls sprechen Lioba Heinzler und ich darüber wie der bewusst eingenommene periphere Blick beziehungsweise das Defokussieren gegensteuern kann.

Es geht darum:

  • was das genau ist,
  • wozu defokussieren bzw. der periphere Blick wichtig ist,
  • wie es helfen kann, neue Ideen oder Erkenntnisse zu gewinnen,
  • welche Rolle es in der digitalen Arbeit spielt,
  • welche Bedeutung das in der Arbeit mit Menschen und Gruppen hat,
  • warum der periphere Blick ein Resilienzfaktor ist,
  • und wie man das Ganze einfach und unkompliziert einbauen kann.

* Ich verwende in diesem Beitrag beide Begriffe synonym.

Du liest lieber? – Dann hier die Zusammenfassung.

Peripherer Blick oder defokussieren.

Bestimmt kennst du das auch. Wenn du mit Kindern das Gesellschaftsspiel „Memory“ spielst, gewinnen die Kinder immer! Das liegt daran, dass sie noch offene Wahrnehmungskanäle und einen auf „weit“ gestellten Blickwinkel haben. Was auch immer sich am Rande abspielt, sie bekommen es mit und behalten es. Wir Erwachsenen können da selten mithalten ….

Wir kennen diesen Blick allerdings auch: vom Autofahren. Während wir fahren, achten wir nicht nur auf einen bestimmten Ausschnitt oder Fokus. Wir haben die Straße sowohl vor als auch hinter uns im Blick, sowie alles, was im Augenwinkel rechts und links passiert. Gleichzeitig registrieren wir Geräusche aus dem Fahrzeug oder der Umgebung.

Auch Bergwanderer oder Menschen draußen in der Natur draußen nehmen einen viel offeneren Rundumblick ein. Sie achten ganz von selbst auf ihren Körper, ihre Umgebung, auf Wetterveränderungen und mögliche Gefahren.

Dieser weite, offene 360 Grad Blick ist etwas anderes als einfach zu relaxen, die Dinge laufen zu lassen oder sich im Multitasking zu verlieren. Er ist entspannt und konzentriert zugleich und versucht möglichst viel gleichzeitig wahrzunehmen.

  • Er ist ein Wahrnehmungsfilter wie das Fokussieren auch
  • Er ist ent-schärft, aber aufmerksam
  • Er bezieht besonders die Randbereiche des Blickfeldes ein, darum „peripherer Blick
  • Er braucht und bewirkt eine bestimmte Haltung: absichtslos, schwebend und wohlwollend.

Der periphere Blick ist immer dann besonders wichtig, wenn es um komplexe Situationen oder um Bewegung geht.

Fokussieren und defokussieren – alles hat seine Zeit

Erwachsene sind im Alltag meist sehr darauf ausgerichtet ihre Wahrnehmung zu strukturieren, zu filtern und gezielt auf bestimmte Punkte in ihrer Umgebung zu konzentrieren. 

Nur: wer zu sehr fokussiert ist, vergisst leicht seinen Körper und seine Sinne. Auch die Wahrnehmung nach außen wird „enger“.

Weil fokussiertes Denken mehr auf die Inhaltsebene achtet als auf die Beziehungsebene, bekommt man in dem Modus weniger nonverbale und situative Signale von anderen Menschen mit. Das führt leicht dazu dazu, dass in den eigenen Denkbahnen festzuhängen, und nichts Neues mehr zu entwickeln.

Hier kannst du noch mehr zu den „Zwei Seiten der Wahrnehmungsfokussierung“ erfahren und und das berühmte „Gorilla-Experiment“ kennenlernen.

Digitale Arbeit ist fokussierte Arbeit

Das hat mit den Charakteristika virtueller Arbeitens zu tun.

Bildschirme „saugen“ an. Unser Blick ist stark auf den Bildschirm und das Bild konzentriert. Für das Auge ist es immer die gleiche Entfernung. Das schwächt langfristig die Anpassungsfähigkeiten der Augenmuskeln. Wir nehmen uns nicht mehr als Körper wahr. Manche Menschen merken zum Beispiel nicht, dass sie durstig sind. Andere spüren nicht, dass sie ungünstig sitzen.

Gleichzeitig wird unsere Wahrnehmung von einem zweidimensionalen Bild bestimmt (2D). Wir selbst sind aber dreidimensional, das heißt, wir sind räumliche Wesen und nehmen räumlich wahr. Wir empfangen Informationen immer über mehrere Sinneskanäle.

Bei der Arbeit am Bildschirm liegt die Betonung auf dem visuellen Kanal.

Das hat Folgen für die Kommunikation.

Der Bildschirm „schluckt“ viele nonverbale, paraverbale und situative Signale. Häufig empfinden Menschen daher digitale Kommunikation als „flach“ oder mechanisch. Das muss aber nicht sein! Es gibt inzwischen viele schöne Methoden und Tools, die diese Effekte ausgleichen und das digitale Arbeiten „dreidimensionaler“, d. h. kreativ und lebendig machen.

Es ist online schwieriger, ein Gefühl für Gruppen zu bekommen. Gruppen liefern selbst in Präsenz sehr komplexe Informationen. Online ist ein direkter Blickkontakt nicht möglich, und es ist anstrengender, alle im Blick zu haben.

Der „periphere Blick“, das Defokussieren ist eine Methode, die helfen kann, mehr nonverbale und situative Informationen wahrzunehmen.

Den defokussierten und peripheren Blick üben

Defokussieren oder der periphere Blick ist das bewusste  Erweitern des Fokus.

Ziel ist es, mehr oder, anders ausgedrückt, „analoger“ wahrzunehmen.

Das Prinzip dieser Übung: Mit einer entspannten, absichtslos-schwebenden Haltung Schritt für Schritt mehr Bereiche in das Wahrnehmungsfeld miteinbeziehen.

Übung

Du kannst diese Übung als Erholungs- oder Kreativtool in deine Arbeit mit Mitarbeitenden, Teilnehmenden und Gruppen in IhreMeetings, Workshops oder Coachings einbauen oder auch einfach für dich nutzen.

  1. Suche dir sich im Raum einen Punkt, auf den du schaust, vielleicht einfach jetzt im Moment auf den Monitor.
  2. Während du auf den Monitor (oder Punkt) schaust, nimm zusätzlich wahr, was sich am oberen Rand des Monitors befindet … und am unteren Rand ….. am linken … und am rechten Rand.
  3. Erweitere immer mehr und mehr den Bereich deiner Wahrnehmung in den Raum hinein, während du weiter auf den Monitor schaust.
  4. Und während du das alles tust, kannst du auch jetzt beginnen, darauf zu achten, was du hörst, vielleicht Gerätesurren oder Geräusche von draußen.
  5. Vielleicht gibt es auch einen bestimmen Geruch in der Luft.
  6. Jetzt kannst du dich fragen,  wie sich dein Körper gerade anfühlt, wie die Füße den Boden berühren, wie sich die Sitzfläche anfühlt, dein Rücken die Lehne des Stuhles berührt, wo die Hände aufliegen. Und halte so diese weite und offene Wahrnehmung einen Moment ….
  7. Bevor du die Übung beendest, nimm noch einmal wahr, wie es dir geht im Vergleich zu vor ein paar Minuten. Vielleicht fühlst du dich etwas erfrischter, erholter, offener. Vielleicht gibt es auch noch etwas anderes. Nimm einfach den Unterschied wahr. 

Defokussieren entspannt den Geist.

Erläuterung:

Die Wahrnehmung über das Sinnesorgan Auge Schritt für Schritt zu erweitern bewirkt, dass mehr Informationen im Verstand ankommen. Das lässt ihn für einen Moment kapitulieren, und führt dazu aus dem engen Fokus herauszukommen. In diesem Zustand ist der Zugang zu den eigenen Ressourcen leichter. Gleichzeitig entsteht Raum für unerwartete Gedanken oder neue Einfälle.

Darüber hinaus kommen mehr Informationen an von den Menschen, mit denen wir in Kontakt sind: Gestik, Mimik, Tonfall, Pausen, Geräusche, Schweigen, Lachen, Sprechtempo, Undeutlichkeit, Gruppenatmosphäre, die gemeinsame Befindlichkeit, die Haltung aller zum Thema und auch mögliche Reaktionen auf uns selbst.

Darum hilft es sehr bei der Leitung von Gruppen – online wie offline!

Der periphere Blick – ein Resilienzfaktor


Das bewusste Wechseln zwischen einem zentrierten und einem weiten Fokus trainiert die Fähigkeit, sich von inneren Foki lösen und Abstand gewinnen zu können. Das hilft auch in anderen Bereichen, um besser mit Problemen und Emotionen umgehen zu können, wenn es zum Beispiel darum geht, die Spannung aushalten zu können, dass etwas nicht direkt verändert werden kann.
Es verbindet mit den Körper-Sinnen, auch in der Bedeutung von Sinn-Machen oder Sinn-Geben. Denn, ob wir etwas als sinnvoll und sinnhaft erleben, hat viel damit zu tun, dass wir das Leben mit allen Sinnen erfahren können.

Wer profitiert?

  • Alle – durch eine Bereicherung der Wahrnehmung und einen bewussten Ausgleich für das verstandesorientierte fokussierte Arbeiten. 
  • Alle, die mit aktuellen Problemlösungen nicht weiterkommen, neue Ideen und Einsichten brauchen.
  • Alle, die beratend, anleitend, führend oder betreuend tätig sind.
  • Alle, die on- und offline mit Menschen und Gruppen arbeiten. 

Defokussieren und peripherer Blick

Defokussieren oder peripherer Blick: Resümee

  • Defokussieren hat nichts Laufenlassen oder Multitasking zu tun.
  • Defokussieren ist ein bewusster Wahrnehmungsfilter, der eingenommen werden kann, um auf neue Ideen und Erkenntnisse zu kommen oder Wahrnehmungsverengungen auszugleichen 
  • Defokusssieren ist eine eigene Kompetenz
  • Defokussieren unterstützt Resilienz. 
  • Defokussieren ist besonders wichtig in der Arbeit mit digitalen Kanälen oder Kommunikationsmedien, weil sie die Nachteile der zweidimensionalen Darstellung ausgleichen hilft.
  • Defokussieren kann und sollte geübt werden, weil wir als Erwachsene eher zu fokussierter Wahrnehmung neigen.
  • Wir üben es, indem wir bewusst zwischen fokussierter und defokussierter Wahrnehmung pendeln.

Du hast Fragen oder Informationsbedarf? Du weißt noch nicht genau, welches Angebot richtig für dich wäre? Dann melde dich gern an für ein 15 minütiges Info-Gespräch.
Dort kannst du mich persönlich kennen lernen. Wir können schauen, was genau in deiner Situation das richtige wäre.

Ich bin Mediatorin, zertifizierte Klärungshelferin und Supervisorin und helfe dir gerne bei der Konfliktlösung.

Herzlichst

 

 Weiterlesen:

  1. https://kerstin-pletzer.de/stressbewaeltigung/
  2. https://kerstin-pletzer.de/fuehrungskraft-im-chaos-handlungsfaehig/

Developed by nexTab