Du sitzt in einem Gespräch, hörst zu – interessiert, offen, wie es deiner Art entspricht. Dein Gegenüber, ein typischer Vielredner, spricht und spricht. Erzählt lebendig, ausschweifend, gedankenverloren. Du wartest auf eine Pause, einen Moment, in dem du dich einbringen kannst. Aber es kommt keiner. Selbst das, was dir zwischendurch einfällt, was du gerne sagen würdest, zerrinnt und zerfasert. In deinem Kopf ist alles wie Brei. Irgendwann fühlst du dich nur noch als Kulisse. Nicht, weil du grundsätzlich nichts zu sagen hättest. Sondern, weil kein Raum für dich ist.
Was sich hier zeigt, ist ein Muster in der Kommunikation, das viele kennen: Ein Mensch redet viel – ein Vielredner eben – und ein anderer lässt ihn gewähren. Nicht aus Schwäche, sondern aus Empathie, Rücksicht und einer Haltung der Zugewandtheit. Doch genau das wird zur Falle. Denn mit Empathie allein kommst du in solchen Momenten nicht weiter.
Was bedeutet „Vielredner“ eigentlich?
Eigentlich mag ich solche Begriffe nicht. „Vielredner“ ist ein Etikett, das eine komplexe Situation auf einen etwas abwertenden Begriff reduziert. Solche Schubladen sind in der Kommunikation im Grunde nie hilfreich, weil sie verurteilen und suggerieren, dass einer der Verursacher eines Problems ist. Der eigene Beitrag wird galant ausgeblendet.
Zwischenmenschliche Kommunikation umfasst aber immer zwei oder mehrere Seiten und ist ein Wechselspiel!
Auf der anderen Seite ist „Vielredner“ aber auch ein anschauliches Bild für eine Erfahrung, die viele Menschen beschreiben: Jemand nimmt so viel Raum ein, dass sie nicht zu Wort kommen und irgendwann erschöpft aufgeben.
Darum finde ich es lohnenswert, dieses Kommunikationsphänomen im Folgenden einmal etwas näher zu untersuchen.
Es geht dabei nicht um Minuten oder Redeanteile. Sondern um ein gefühltes Ungleichgewicht. Gespräche leben vom Wechsel. Vom Geben und Nehmen. Wenn einer redet, der andere schweigt und das zu lange so bleibt, kippt die Beziehung. Und zwar nicht selten unbemerkt.
Wichtig ist: Es geht nicht um Schuld, sondern um Dynamik. Denn wo einer redet, braucht es jemanden, der zuhört.
Die Frage ist nur: Warum hören manche zu lange zu?
Dabei ist es interessant, wie unterschiedlich „viel reden“ erlebt wird. Manche empfinden es als lebendig und unterhaltsam, wenn jemand mit seinen Geschichten in einer Runde für Stimmung sorgen. Andere „leiden still“, wenn sie sich dauerhaft nicht beteiligen können. Entscheidend ist also nicht, wie viel gesprochen wird, sondern wie die Gesamtsituation ist und wie ausgewogen sich ein Gespräch anfühlt. Und wie viel Raum für andere bleibt.
Vielredner: Was kann dahinter stecken?
Wichtig ist zunächst: Wir alle kennen diese Rolle – nicht nur von außen, sondern auch von innen. Vielleicht warst du selbst schon mal so vertieft in deine Gedanken, dass du gar nicht gemerkt hast, wie lange du gesprochen hast. Vielleicht, weil du begeistert warst. Oder weil du dachtest, sonst sagt niemand etwas. Das ist menschlich – und passiert uns allen. Genau deshalb lohnt es sich, diese Dynamik ohne Bewertung, aber mit klarem Blick zu betrachten.
Hinter ausuferndem Reden steckt also selten bewusste Absicht. Viele Menschen denken im Sprechen. Sie ordnen ihre Gedanken erst, wenn sie darüber sprechen. Manche füllen Pausen, weil sie Unsicherheit nicht aushalten. Andere glauben, nur durch ständiges Reden überhaupt Aufmerksamkeit zu bekommen. Wieder andere wollen durch Erzählen Nähe schaffen – und merken nicht, dass sie damit im Gegenteil sogar die Verbindung unterbrechen.
Es kann auch mit der eigenen Geschichte zu tun haben. Vielleicht wurde jemand als Kind oft unterbrochen oder nicht ernst genommen. Heute holt diese Person sich unbewusst den Raum, den sie früher nicht hatte. Oder sie hat gelernt: Wer laut und viel redet, wird wahrgenommen. Und dieses Muster bleibt.
Auch die Kultur spielt eine Rolle: In manchen Zusammenhängen ist Vielreden ein Zeichen von Engagement, Durchsetzungskraft oder Führungsstärke. In anderen wirkt es schnell dominant oder rücksichtslos.
Vielleicht hast du es auch schon einmal beobachtet: Menschen in einer führenden oder leitenden Position wird generell mehr Rederaum zugebilligt beziehungsweise es wird manchmal sogar von ihnen erwartet. Man unterbricht selten mit einem eigenen Einwand. Darum ist es für Führungskräfte so wichtig, initiativ und offen Rückmeldungen einzuholen und nachzufragen, besonders eher „stille“ Teammitglieder.
Der Kontext ist immer entscheidend!
Manchmal sind Vielredner sehr willkommen. Auf Partys, in Gruppen, wenn sonst niemand spricht. Dann ist es entlastend, wenn jemand den Raum füllt. Wer gut erzählt, wird auch als unterhaltsam empfunden. Das ist nicht per se ein Problem.
Auch in Krisensituationen oder bei einem beratenden Gespräch ist es meist selbstverständlich, dass der eine mehr Raum für seine Themen hat als der andere. Aber in der Regel bleibt es dann bei dieser speziellen Situation und ist kein Dauerzustand.
Schwierig wird das Ausbleiben eines echten Hin und Her immer dann, wenn die Erwartungen an die Kommunikation unterschiedlich sind, wenn Beteiligung gebraucht wird und wenn Entscheidungen anstehen.
Warum hören empathische Menschen so lange zu?
Vielleicht gehörst du zu der anderen Seite, zu den Menschen, die gut zuhören können. Die gelernt haben, andere ausreden zu lassen. Für die es wichtig ist, Gespräche achtsam zu führen.
Vielleicht bist du jemand, der nicht gern unterbricht, sondern still hofft, dass der andere von selbst merkt, wann es genug ist.
Dann gehörst du vermutlich zu den Menschen mit einem empathischen Kommunikationsstil.
Und genau darin liegt die Herausforderung.
Wer so tickt, stellt oft das Verständnis für den anderen über die eigene Grenze. Man möchte höflich bleiben. Niemandem zu nahe treten. Und geht insgeheim davon aus: Ich höre dir zu – dann wirst du auch mir zuhören.
Doch genau das passiert oft nicht. Menschen, die viel reden, bemerken gar nicht, wie viel Raum sie gerade einnehmen oder wie es dem Gegenüber dabei geht.
Auch auf dieser Seite hat das viel mit der eigenen Geschichte zu tun. Vielleicht hast du als Kind viel Anerkennung bekommen, wenn du geduldig zugehört hast. Vielleicht warst du der ruhige Pol in deiner Familie, hast zwischen den Zeilen gelesen und dich zurückgenommen.
Das kann zu tief verankerten Überzeugungen führen: Ich bin dann ein guter Mensch, wenn ich mich zurücknehme. Oder: Ich darf niemanden stören.
Solche inneren Programme wirken leise, aber stark und machen es schwer, rechtzeitig zu spüren, wann die Grenze erreicht ist.
Der Wunsch, ein guter Zuhörer zu sein, gerät in Konflikt mit dem ebenso berechtigten Wunsch, selbst gehört zu werden. Und weil du diesen Widerspruch nicht auflösen kannst, machst du einfach weiter mit dem, was dir am meisten liegt: zuhören.
So gerätst du in eine Schleife aus Warten, Frust und innerem Rückzug.
Und irgendwann merkst du: Du bist längst kein guter Zuhörer mehr.
Denn du bist innerlich zu sehr damit beschäftigt, deine aufgestauten Gefühle zu regulieren.
Professionelle Prägungen
Gerade in sozialen, helfenden oder beratenden Berufen ist es üblich – ja sogar notwendig –, Gespräche offen zu lassen. Klient:innen, Patient:innen oder Coachees sollen Raum haben, sich mitzuteilen. Zuhören, aushalten, nicht vorschnell unterbrechen, das sind wichtige Kompetenzen in professionellen Settings.
Doch genau diese Haltung prägt uns oft weit über den beruflichen Kontext hinaus. Wenn du gelernt hast, empathisch und zurückhaltend zu sein, überträgst du dieses Muster womöglich auch auf private oder kollegiale Gespräche.
Und genau dort kann es problematisch werden. Denn während es im beruflichen Rahmen meist klare Rollen und einen definierten Gesprächszweck gibt, fehlen diese Strukturen im privaten Austausch. Hier kann aus professioneller Zurückhaltung schnell ein persönliches Ungleichgewicht entstehen. Gespräche kippen. Der eigene Anteil bleibt auf der Strecke.
Auf Dauer führt das nicht nur zu Frust, sondern auch zu Missverständnissen, emotional, aber auch fachlich. Denn wenn du deine Sicht nicht einbringst, fehlen dem Gegenüber wichtige Impulse. Entscheidungen werden einseitig getroffen. Und Beziehungen, ob beruflich oder privat, verlieren an echter Verbindung.
Auch für den Vielredner ist diese Dynamik nicht erfüllend
Denn was nützt jemandem ein ausgedehnter Redebeitrag, wenn das Gegenüber längst innerlich ausgestiegen ist? Wenn nur noch höfliches Nicken, genervte Mienen oder plötzlicher Ärger zurückkommt, fühlt sich auch der Vielredner irgendwann nicht mehr wirklich wohl. Fatalerweise neigen sie ihrerseits dazu, ihr Unwohlsein durch noch mehr Reden zu überdecken. So wird das Problem schlimmer, weil beide Teile bei ihren eingespielten Verhaltensmustern bleiben.
Apropos: Kennst du eigentlich deine typische Konflikt- und Kommunikationsstrategie? Lies gerne hier den Blogartikel dazu oder mache gleich den kurzen 5–Minuten Selbst-Test.
Wenn du zu empathischen Kommunikationsstrategien neigst:
- Mache dir bewusst, dass du deinem Gegenüber keine echte Begegnung ermöglichst, wenn du eigene Regungen unterdrückst und nur noch höflich zuhörst.
- Was wie Rücksicht wirkt, wird zur Fassade – und hinter dieser baut sich oft unbemerkt Ärger auf.
- Dieser Ärger kann sich später in scharfen Bemerkungen entladen, die weit mehr verletzen, als ein früher, freundlicher Hinweis es je getan hätte.
Vielleicht hilft dir eine einfache Frage zur Orientierung:
Was würdest du dir selbst wünschen, wenn du ganz in deinen Gedanken versunken sprichst?
Wahrscheinlich lieber einen liebevollen Stopp als ein Publikum, das längst ausgestiegen ist.
Strategien für mehr Gleichgewicht
Zuerst: Erlaube dir, etwas zu verändern. Zuhören ist wertvoll. Aber nicht um den Preis deiner eigenen Stimme. Du darfst unterbrechen. Du darfst dich zeigen. Freundlich, aber klar. Nicht aus Abwehr, sondern aus Verantwortung für den Dialog.
Ein paar konkrete Möglichkeiten:
- Unterbrechen mit Haltung: „Darf ich dich kurz unterbrechen? Ich würde gern etwas dazu sagen.“
- Einhaken mit Rücksicht: „Wenn ich da mal kurz einhaken darf – mir kam gerade ein Gedanke.“
- Umlenken und Einbeziehen: „Ich würde gern hören, was die anderen denken.“
- Rückmeldung im Nachhinein: „Vielleicht hast du es nicht gemerkt, aber ich hatte Mühe, mich einzubringen.“
Auch deine Körpersprache zählt: aufrechte Haltung, Blickkontakt, eine klare Handbewegung (z.B. „Cut“). All das zeigt: Ich bin da. Und ich habe etwas zu sagen.
Häufig hilft es auch, denjenigen mit Namen anzusprechen: „Dennis, lass uns diesen Punkt kurz vertiefen, bevor wir weiter gehen.“ Das wirkt weniger scharf und vermittelt deinem Gegenüber trotz des Unterbrechens Respekt.
Du kannst auch gezielt strukturierende (statt offene) Fragen stellen: „Was denkst du, wie sehen das die anderen?“ oder „Lass uns mal gemeinsam sortieren, was du bisher gesagt hast.“
Was du unbedingt vermeiden solltest:
- Schweigen, obwohl du etwas beitragen möchtest.
- Zustimmendes Nicken, wenn du innerlich schon abgeschaltet hast.
- Offene Fragen, die den Monolog nur unterstützen und verlängern.
- Innerlich aufgeben – ein stilles „Dann halt nicht“. Es ist eine Einladung, dass alles so bleibt, wie es ist.
In Gruppen oder Teams
Auch in Gruppensituationen kannst du bewusst steuern: Lade stille Personen ein, sich zu äußern. Gib Raum, ohne dass jemand ihn sich nehmen muss. Oder benenne freundlich, wenn die Dynamik aus dem Gleichgewicht gerät: „Ich nehme wahr, dass wir gerade eine starke Sprecherin haben und viele, die zuhören. Wer möchte noch etwas sagen?„
Wenn du Führungskraft bist oder Gruppen moderierst, übernimm bewusst Verantwortung für den Redeausgleich. Mache zur Kultur, dass jede Stimme zählt, dass auch Pausen wichtig sind, dass Zuhören nicht mit Zurückhaltung verwechselt wird.
Fazit: Empathie ist wertvoll. Aber nicht genug.
Ein Gespräch ist ein Miteinander. Und das beginnt dort, wo wir uns nicht selbst verlieren.
Empathie ist kein Fehler. Sie ist ein Geschenk. Aber sie braucht eine Grenze, damit sie dich nicht überfordert. Gerade in Gesprächen, in denen viel geredet wird, braucht es Klarheit. Selbstführung. Und manchmal auch: ein bewusstes Stoppen.
Du darfst freundlich unterbrechen und den Gesprächsfluss aktiv mitgestalten, Wünsche äußern, den Blick erweitern, neue Perspektiven einbringen. Denn Gespräche sind kein Monolog mit Publikum.
Manchmal ist es genau dieser kleine Wechsel im Verhalten, der eine neue Dynamik möglich macht. Nicht gegen den Vielredner. Sondern für den Dialog, für echte Begegnung und für ein Gespräch, das beiden guttut.
Hier für dich die Do’s and Dont’s zusammengefasst

Und vielleicht ist genau jetzt der Moment, dich selbst zu fragen:
Wo höre ich zu lange zu?
Wo darf ich mutiger meinen Raum einnehmen?
Und wem könnte ich heute freundlich und klar sagen: „Jetzt bin ich dran.“
Denn Veränderung beginnt nicht beim Vielredner. Sie beginnt bei dir. Mit einem kleinen Schritt. Einer Stimme. Deiner.
Kennst du solche Gesprächssituationen aus deinem Alltag oder Berufsleben?
Was hilft dir, wenn Zuhören zu viel wird?
Ich freue mich, wenn du deine Gedanken, Erfahrungen oder Fragen in den Kommentaren teilst.
Oder du meldest dich direkt bei mir – wenn du das Thema im Coaching vertiefen möchtest.
Denn manchmal reicht schon ein Perspektivwechsel, um wieder klarer bei sich selbst anzukommen.
Herzlichst

P.S.
Vielleicht hast du dich beim Lesen eher auf der anderen Seite wiedergefunden – als jemand, der gerne und viel erzählt.
- Wie erlebst du solche Situationen?
- Was wünschst du dir von Menschen, die eher still sind, aber aufmerksam zuhören?
- Was brauchst du, damit sich das Gespräch für dich wirklich lebendig und verbunden anfühlt, für beide Seiten?
Vielleicht liegt genau dort ein spannender Schlüssel für mehr gegenseitiges Verstehen.
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https://kerstin-pletzer.de/was-ist-deine-konfliktloesungsstrategie/
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Titel: vkstudio@canva
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